Kommentar zu den neuen EAS und ESC Guidelines

November 2019 – Die EAS und die ESC haben ihre Leitlinie zur Lipidtherapie von 2016 aktualisiert: Fast ein Lehrbuch der Lipidologie auf neuestem Stand, sehr zu empfehlen zum Lernen und Nachschlagen. Für den klinisch Tätigen werden allerdings vermutlich Indikation und Zielwerte der Cholesterinsenkung von zentralem Interesse sein.

Positiv zu vermerken sind die klaren Arbeitsanweisungen: wann welches Medikament in welcher Dosis. Für die Wirksamkeit sind die Belege in den Referenzen zu den wesentlichen Studien zu finden. Und die Zielwerte für das LDL-Cholesterin sind klar definiert: bei einem 10-Jahres-Risiko für kardiovaskulären Tod nach dem ESC-Score unter 1% <116mg/dl, 1-5% <100 mg/dl, 5-10% <70 mg/dl, >10% <55 mg/dl und für Höchstrisikopatienten <40 mg/dl.

Diese präzisen Zielwerte erwecken den Eindruck, dass sie auf differenzierter Studienevidenz beruhen. Eine wissenschaftliche Begründung der Zielwerte findet sich in der der Leitlinie aber leider nicht. Klar ist, dass der Grundsatz gilt: Je niedriger das LDL-Cholesterin umso besser. Aber gilt das nicht für jeden, unabhängig von der klinischen Situation und weiteren Risikofaktoren? Eine Unterscheidung nach Risikokategorien oder 10-Jahres-Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erscheint daher beim genauen Hinsehen zwar plausibel, aber arbiträr und gesundheitsökonomisch motiviert. Denn je höher das Risiko umso größer der absolute Nutzen und umso niedrige die Kosten pro eingespartes Ereignis. Zumindest befriedigt die Kategorisierung aber das Bauchgefühl, dass dem unmittelbar Gefährdeten stärkere Hilfe gebührt.

Die althergebrachte Abstufung der Cholesterinsenkung nach Risiko stammt aus der Zeit teurer Statine, als noch aus wirtschaftlichen Gründen eine Allokation der Therapie notwendig war. Insofern erreicht die Leitlinie das Niveau einer Expertenmeinung mit gut gemeinten und plausiblen Praxisempfehlungen, nicht aber das einer S3-Leitlinie, die immerhin nach Ansicht von Medizinjuristen einen gewissen rechtlich einforderbaren Handlungskorridor vorgibt.

Für die Anwendung eines PCSK9-Inhibitors wird aufgrund der budgetären Auswirkungen auch heute noch eine Fokussierung auf Patienten mit höchstem Risiko nötig sein. Bezüglich der Verschreibung von Statinen muss die Frage heute aber heißen: Welcher LDL-Cholesterinspiegel ist zum Erhalt der Integrität der Gefäße am günstigsten? Für die Primärprävention bei intakten Gefäßen deuten epidemiologische und genetische Daten auf einen LDL-Cholesterinspiegel um 100 mg/dl auf ein sehr niedriges kardiovaskuläres Risiko hin, wobei wieder gilt ‚The lower, the better‘.

Mindestens 3 Linien der Evidenz deuten auf einen LDL-Spiegel um oder unter 100 mg/dl hin, der allerdings lebenslang von Kindheit an einzuhalten ist. Hiervon weicht die Leitlinie trotz anderer Annäherung an das Problem der Prävention mit der Empfehlung eines LDL-Cholesterin-Spiegels unter 116 mg/dl bzw. 100 mg/dl nicht substantiell ab, zwei Zielwerte, die ohnehin kaum Aussicht haben, im Praxisalltag schon alleine aufgrund der Variabilität der klinisch-chemischen Messmethoden unterschieden zu werden.

Mit der Orientierung an Evidenz zur Gefäßgesundheit erledigt sich auch die Frage nach dem Zielwert bei Familiärer Hypercholesterinämie (FH). Es gibt keinen Grund für die Annahme einer veränderten Reaktion der Gefäße auf Cholesterin bei FH, die einen tieferen Zielwert erfordern würde. Die Einstellung eines solchen Zielwertes muss nur ausreichend früh begonnen werden. Und je später sie ansetzt, umso tiefer muss das LDL-Cholesterin gesenkt werden, um die Fläche unter der Kurve Cholesterinexposition x Zeit wieder auszugleichen.

Früher Therapiebeginn also insbesondere bei genetischer Belastung durch Familiäre Hypercholesterinämie! Ein grundsätzlich niedrigeres Cholesterin bei genetischer Belastung ist schwer zu begründen, wenn die Diagnose früh im Leben gestellt wird. Wird sie zu spät gestellt, könnte eine stärkere Cholesterinsenkung nützlich sein.

Nachvollziehbar dagegen ist ein niedrigerer Zielwert für das LDL-Cholesterin bei manifester Arteriosklerose, wobei allerdings die zahlenmäßigen Empfehlungen von unter 55 mg/dl bzw. 40 mg/dl arbiträr erscheinen. Die Interventionsstudien deuten auf ein ‚Je tiefer, desto besser‘ hin, begründen aber nicht die konkreten Konzentrationsangaben. Den Interventionsstudien kann nicht eine zahlenmäßig signifikante Verbesserung der Ereignisraten im Bereich von 40 bis 55 mg/dl entnommen werden. Vielleicht bieten sich hier die Ergebnisse der Untersuchungen zur Atherogenese als Richtschnur der Definition eines Zielwertes an. Sehr übereinstimmend haben die intrakoronaren Messungen der Plaquegrößen bei etwa 95% der Behandelten Stillstand oder Regression bei einem LDL-Cholesterin um 50 mg/dl ergeben, also in dem auch von der Leitlinie geforderten Bereich.

Zusammenfassend bietet die inhaltreiche Leitlinie eine erstklassige Grundlage für die lipidologische Therapie. Kritik: Sie könnte allerdings vermutlich noch erfolgreicher eine ausreichende Cholesterinsenkung durchsetzen, hätte man auf die evidenzentbehrenden und praxisfernen pseudopräzisen Zielwertangaben verzichtet.

Quelle: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias

(https://academic.oup.com/eurheartj/advance-article/doi/10.1093/eurheartj/ehz455/5556353)

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