KONGRESSBERICHT SELECT-STUDIE
SELECT-Studie definiert Adipositas als neuen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor

Philadelphia, AHA Kongress, 11.11.2023

Auf dem AHA Kongress wurden die Ergebnisse der SELECT Studie an 17,500 Patienten mit kadiovaskulären Vorerkrankungen und Adipositas ohne Diabetes mellitus vorgestellt. Der GLP1-Rezeptor Agonist (GLPR1A) Semaglutide reduzierte den kombinierten Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20% (absolute Risikoreduktion 1,5%, NNT 67). Mit spontanem Applaus wurde bei der Kongress-Vorstellung auch die numerische Reduktion der Gesamtsterblichkeit um 19% (absolute Reduktion 0,9%) bedacht. Die Studie identifiziert erstmals Adipositas als einen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor und eröffnet damit eine neue Domäne für die Kardiologie.

Hintergrund in Kürze: Adipositas nimmt weltweit zu und ist mit einer hohen kardiovaskulären Morbidität assoziiert. Bislang konnte keine medikamentöse Therapie eine Reduktion von kardiovaskulären Endpunkten bei Patienten mit Adipositas zeigen. Aus großen Studien mit GLP1-Rezeptor Agonisten (GLPR1A) sind positive Effekte bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 auf die Blutzucker-Kontrolle und kardiovaskuläre Endpunkte bekannt. Weiterhin zeigen aktuelle Studien, dass GLPR1A in höheren Dosierungen wirksam das Körpergewicht bei Personen mit und ohne Diabetes Typ 2 reduzieren. Die entscheidende offene Frage war daher, ob GLPR1A auch bei Patienten mit Adipositas ohne Diabetes mellitus kardiovaskuläre Ereignisse beeinflussen.

Wichtigste Fakten zur Studie: Unter Leitung von Michael Lincoff, Cleveland Clinic, wurden 17604 Patienten in 41 Ländern mit bekannter Vorgeschichte eines Myokardinfarktes, Schlaganfalls oder einer pAVK und einem BMI >27 kg/m2 zu einer Behandlung mit Semaglutid 2,4 g s.c. 1x pro Woche oder Plazebo randomisert. Der mittlere BMI bei Einschluss war 33,3 kg/m2, 70% der Patienten hatten einen BMI > 30 kg/m2. Mittleres Alter beim Einschluss war 61,6 Jahre, 72% waren Männer, 12,5 % Afroamerikaner. Die Patienten waren gut behandelt, 88% erhielten Statine, das LDL-C bei Studienbeginn war um 88 mg/dl, der systolische Blutdruck ca. 130 mmHg, HbA1c 5,8%. Die mittlere Dauer der Behandlung war knapp drei Jahre (34,2 Monate).

Was waren die wichtigsten Ergebnisse? In der Semaglutid-Gruppe war der primäre Endpunkt, die Kombination aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20% reduziert (absolute Risikoreduktion 1,5%, NNT 67). Die Ereignis-Kurven gehen von Anfang an und kontinuierlich auseinander. Es zeigte sich keine Heterogenität in den prä-definierten Subgruppen Alter, Geschlecht, BMI und HbA1c. In der Gruppe der prä-definierten sekundären Endpunkte erreichte die Reduktion der kardiovaskulären Sterblichkeit mit 15% nicht die statistische Signifikanz (p=0.065), daher wurden alle weiteren sekundären Endpunkte nicht statistisch getestet. Dennoch wurde bei der Präsentation in Philadelphia am 11.11.2023 die numerische Reduktion der Gesamtsterblichkeit um 19% (absolute Reduktion 0,9%) mit spontanem Applaus bedacht. Es zeigten sich auch numerisch weniger Revaskularisationen und Nieren-Endpunkte.

Was sind die Mechanismen? Die Gewichtsreduktion betrug im Mittel 9,4% (unter Plazebo 0,9%). Die Gewichtsreduktion war von signifikanten metabolischen Verbesserungen begleitet: Der Blutdruck wurde um 3,8 mmHg in der Semaglutid-Gruppe reduziert. Weiterhin zeigten sich eine signifikante Absenkung des hsCRP um 39,1%, des LDL-C um 5,3% und der Triglyceride um 18,3%.

Gab es negative Signale? Semaglutid wurde insgesamt sehr gut vertragen. Zu den bekannten Wirkungen von GLP1RA gehören gastrointestinale Beschwerden. Die Studienmedikation wurde initial eintitriert. Schwere Formen von GI Beschwerden waren in beiden Gruppen ähnlich häufig. In der Gruppe mit Gewichtsreduktion finden sich erwartungsgemäß etwas mehr Gallensteine. Wichtig ist, dass in dieser großen Studie keine Häufung von Depressionen, Neoplasien oder anderer negative Effekte beobachtet wurde.

Welche Limitationen hat die Studie? Entsprechend der Einschluss-Kriterien kann die Studie nicht beantworten, ob Semaglutid auch bei Personen mit Adipositas ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindert. Frauen sind unterrepräsentiert. Ebenso sind spezifische Ethnien oder z.B. auch Patienten mit schwerer systolischer Herzinsuffizienz nur in kleinerer Zahl in der Studienpopulation vertreten.

Kommentar:
SELECT ist eine Meilensteinstudie. Die Studie identifiziert erstmals Adipositas als einen behandelbaren kardiovaskulären Risikofaktor und eröffnet damit eine neue Domäne für die Kardiologie. Die Reduktion von Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall durch Semaglutid wurde zusätzlich zu einer guten Leitlinien-gerechten Therapie beobachtet. Der Befund war in allen Subgruppen konsistent. Insbesondere ist interessant, dass Patienten in der niedrigen BMI-Gruppe von 27-30 kg/m2 mindestens ebenso stark, numerisch evtl. sogar besser, profitiert haben.

Das Studien-Design kann nicht die Frage beantworten, ob zusätzlich zu der Gewichtsreduktion und den deutlichen positive assoziierten kardiometabolischen Veränderungen auch mögliche direkte Effekte der GLP1RA eine Rolle spielen, die z.B. in Zellkultur oder Tier-Studien beschrieben wurden.

Für die nächsten Monate wird der Zugang zu dem Medikament, welches zugelassen, aber nicht erstattungsfähig ist, ein dominierendes Thema werden. Die Solidargesellschaft wird begründen müssen, ob eine Lebens-verlängernde Therapie noch länger einer Patienten-Gruppe vorenthalten werden kann. Die beiden weit verbreiteten Vorurteile, Personen mit Adipositas seien an ihrem stigmatisierenden Phänotyp selbst “schuld” oder die Adipositas sei “einfach” durch Änderung des Lebensstils zu beseitigen, sind wissenschaftlich schon lange überholt.

Es ist zu betonen, dass die Daten der SELECT Studie bzgl. Wirksamkeit und Sicherheit nicht ohne weitere Studien auf die neuen dualen oder dreifach-Inkretin-Wirkstoffe übertragen werden dürfen. Perspektivisch ist jedoch für die Zukunft zu erwarten, dass Inkretin-Wirkstoffe zu dem Armentarium in der Kardiologie gehören werden.

Veröffentlichung:
Lincoff A.M. et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Obesity without Diabetes. New England Journal of Medicine, 11.11.2023
DOI: 10.1056/NEJMoa2307563

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